Tunesien gilt als progressiv, wenn es um Frauenrechte geht. Doch im Erbrecht herrscht weiter Diskriminierung. Nun werden die Stimmen für eine gleichberechtigte Aufteilung des Erbes zwischen Männern und Frauen lauter.
Geht es nach Abdelhamid Meddeb, braucht sein Land keine weitergehenden Rechte für Frauen. «Was wollen die denn immer mit dieser Gleichberechtigung?», fluchte der Tunesier, als am vergangenen Wochenende mehr als zweitausend Frauen und Männer an ihm vorbei in Richtung Parlament zogen. «Gleichstellung beim Erbe ist ein Recht, kein Gefallen», lautete der Slogan der Demonstranten, die gegen das diskriminierende Erbrecht in ihrem Land auf die Strasse gingen. Doch mit diesem Slogan können Männer wie Meddeb nichts anfangen: «Alles Unsinn!», schimpfte er. Ein guter Ehemann würde sich gewissenhaft um Frauen und Kinder kümmern, da brauche es keine gesetzliche Regelung.
Der Protestmarsch, zu dem mehr als siebzig Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft aufgerufen hatten, wirft ein Licht auf ein zentrales ungelöstes Problem im tunesischen Familienrecht. Zwar geniesst der kleine Maghrebstaat eigentlich den Ruf, in Sachen Frauenrechte ein Vorreiter in der arabischen Welt zu sein. Geht es aber um die Aufteilung des Erbes, werden die Geschlechter nach wie vor höchst ungleich behandelt. Denn wie in den meisten islamisch geprägten Staaten richtet sich auch in Tunesien das Erbrecht im Wesentlichen nach dem Koran. Und das bedeutet: Den Frauen steht nur die Hälfte des Erbes ihres männlichen Gegenparts gleichen Ranges zu.
Religion als Vorwand?
Diese Regelung wurde auch in Tunesien nach der Unabhängigkeit des Landes 1956 weitgehend übernommen. Die religiöse Verankerung des Gesetzes ist seither für die Gegner einer Reform das wichtigste Argument. Und doch ist seit der Revolution Bewegung in die Diskussion gekommen. So wurde in der neuen tunesischen Verfassung, die 2014 verabschiedet wurde, das Prinzip der Gleichstellung der Geschlechter bereits eindeutig verankert. Zudem verabschiedet das Parlament im vergangenen Sommer eine Strafrechtsreform, die Frauen besser vor Gewalt schützen soll. Allein im Erbrecht sehen viele eine der letzten grossen Hürden, die überwunden werden muss, um – zumindest auf dem Papier – eine Gleichstellung der Geschlechter herzustellen.
Zu ihnen gehört Monia Ben Jemia, die Vorsitzende des Tunesischen Verbandes demokratischer Frauen (ATFD), eine der wichtigsten Frauenorganisationen des Landes. Sie findet, dass die Religion nur ein Vorwand sei, «um patriarchalische Strukturen aufrechtzuerhalten», schliesslich gelte in Tunesien Zivilrecht und kein religiöses. «Wir haben doch auch die Körperstrafen längst abgeschafft.» Aber immerhin: Dass inzwischen überhaupt in der Öffentlichkeit über das langjährige Tabuthema diskutiert werde, sei bereits ein wichtiger Etappensieg, so Ben Jemia. mehr
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