Mit landesweiten Kommunalwahlen soll das Verhältnis der Gemeinden zur Zentralregierung in Tunis neu definiert werden.
Der Wind pustet über die Hauptstrasse von Gremda. Neben einer Tankstelle hat die Partei Nidaa Tounes (Der Ruf Tunesiens) an diesem Nachmittag Quartier bezogen. Wer tankt, bekommt ein Programm in die Hand gedrückt. Walid Kolsi hält mit der einen Hand einen Stapel Flyer fest, damit sie nicht wegfliegen, mit der anderen seine Schirmmütze mit Parteilogo. Der 42-jährige Lehrer will einer der 24 Gemeinderäte werden, die die Bürger der Kommune am kommenden Sonntag wählen werden.
Zum ersten Mal seit dem politischen Umbruch im Januar 2011 finden in Tunesien Kommunalwahlen statt, und zwar in allen 350 Gemeinden des Landes gleichzeitig. Die tunesische Verfassung von 2014 widmet der Dezentralisierung des Landes ein ganzes Kapitel, und die Wahlen sollen einen ersten, wichtigen Schritt auf dem Weg dahin darstellen. Doch das Interesse der Bürger ist gering, nicht nur im 40 000 Einwohner starken Gremda, einem Vorort der Industriemetropole Sfax im Südosten des Landes.
Vertrauen in die Verwaltung
Rund zwei Kilometer weiter haben die Kandidaten von Ennahda (Renaissance) ihr Wahlkampfzelt aufgebaut. Aus den Lautsprechern schallt Musik, wenn Helmi Chaari nicht gerade per Mikrofon den Einwohnern erklärt, warum sie ausgerechnet seiner Partei ihre Stimme geben sollen. Chaari ist auf Platz 24 der Liste zwar nur Zählkandidat, doch gleichzeitig als Wahlkampfleiter aus der Kampagne nicht wegzudenken. Er verspricht eine bessere Infrastruktur, mehr Grünflächen und ein städtisches Schwimmbad für die Bewohner. Das Programm der islamisch-konservativ geprägten Ennahda klingt ähnlich wie bei Nidaa Tounes. Auch dort spricht Walid Kolsi von der Verbesserung städtischer Infrastruktur und einem Schwimmbad für die Gemeinde. Nidaa Tounes wurde einst als säkulares Gegengewicht zu Ennahda gegründet, doch auf nationaler Ebene koalieren die beiden konservativen Volksparteien bereits seit den Parlamentswahlen Ende 2014.
Dass sich die Programme der sechs Parteien und unabhängigen Listen, die in Gremda antreten, ähneln, hat aber noch andere Gründe. Denn wer in der Stadt politisch aktiv ist, weiss längst, was für die Bürger Priorität hat. Im September 2016 hat die Gemeindeverwaltung freiwillig ein aufwendiges Bürgerbeteiligungsverfahren gestartet. Dabei können die Anwohner in einer Versammlung festlegen, welche Infrastrukturprojekte als Erstes angegangen werden sollen, sei es die Ausbesserung des Trottoirs, neue Strassenbeleuchtung oder eben ein Schwimmbad.
Bahri Mathlouthi, Generalsekretär der Stadt, ist als Verwaltungschef für die Bürgerbeteiligung zuständig. Seine erste Bilanz des Pilotprojekts ist positiv: Das seit der Diktatur gestörte Verhältnis zwischen Bürgern und Staat habe sich dadurch verbessert. «Die Bewohner haben wieder Vertrauen in die Verwaltung und passen besser auf die öffentlichen Güter auf.»
Ab diesem Jahr werden alle tunesischen Kommunen die Anwohner in die Entscheidungsfindung einbinden müssen: Die obligatorische Bürgerbeteiligung ist ein Kernstück des neuen Gesetzes über Gebietskörperschaften. Dieses Konvolut aus rund 400 Artikeln, das die Zuständigkeiten der Kommunen neu regelt, wurde in letzter Minute Ende April im tunesischen Parlament verabschiedet – zu spät für die Kandidaten, die gar nicht genau wussten, um welche Posten sie sich bei den Kommunalwahlen eigentlich bewerben, aber noch rechtzeitig für die Wähler, die jetzt immerhin wissen, welche Aufgaben die Volksvertreter nach dem Urnengang haben werden. mehr
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