Unter den Ländern des Arabischen Frühlings ist Tunesien das einzige Erfolgsbeispiel. Doch selbst hier ist fraglich, wie lange die Errungenschaften Bestand haben werden. In der Wirtschaft herrscht Korruption und Stillstand; in der Politik liefern sich alte Männer Grabenkämpfe. Viele junge Tunesier sind verbittert, weil die Revolutionsrendite ausgeblieben ist.
Ein vergleichsweise unblutiger, von weiten Teilen der Bevölkerung getragener Umbruch, freie Wahlen, eine neue Verfassung und sogar ein Friedensnobelpreis: die Bilanz Tunesiens kann sich auf den ersten Blick eigentlich sehen lassen. Sieben Jahre nach Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings ist der 11 Millionen-Einwohnerstaat am Mittelmeer der einzige, der nicht in Chaos und Krieg versinkt oder innerhalb kürzester Zeit in altbekannte autoritäre Muster zurückgefallen ist.
Dennoch brodelt es in Tunesien, denn den demokratischen Entwicklungen stehen nicht nur wirtschaftliche Probleme, Korruption und hohe Arbeitslosigkeit entgegen, auch neugeschaffene demokratische Strukturen, die vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen schützen sollen, werden teilweise schon wieder ausgehöhlt.
Wie weiter mit der Wirtschaft?
Dass die tunesische Wirtschaft sich so schnell wie möglich erholen muss, darin sind sich tunesische wie ausländische Akteure einig. Doch wie man das Wachstum ankurbelt, die Inflation und den Kursverfall des tunesischen Dinars stoppt, daran scheiden sich die Geister. Die Regierung habe keine klare Vision, wie sie das Land aus der Krise führen könne, so Kritiker. Stattdessen verwalte sie nur den Status Quo und beuge sich den Vorgaben internationaler Geldgeber, allen voran des Internationalen Währungsfonds. Dieser ist mit rund 2,9 Milliarden Euro einer der wichtigsten Kreditgeber des Landes.
Tunesien ist auf diese Gelder angewiesen, um seinen aufgeblasenen Beamtenapparat zu finanzieren. Rund die Hälfte des Staatshaushaltes fließt jährlich in Gehälter. Die Nichtregierungsorganisation Observatorium der tunesischen Wirtschaft (OTE), die sich deutlich gegen die Politik des IWF in Tunesien positioniert, fürchtet, dass das Land in eine Schuldenspirale abgleitet. Denn seit 2017 muss Tunesien eine Reihe an Krediten zurückzahlen, die vor allem in den Anfangsjahren nach dem Umbruch 2011 aufgenommen wurde. Mehr als ein Fünftel des Staatshaushalts von rund 36 Milliarden Dinar (12 Milliarden Euro) werde heute für die Schuldentilgung benötigt, so das OTE.
Trotz einer öffentlichkeitswirksamen Antikorruptionskampagne von Regierungschef Youssef Chahed im vergangenen Jahr und der Festnahme mehrerer Schmuggler und hoher Beamter beklagt sich die Bevölkerung darüber, dass die „kleine“ Korruption im Alltag zugenommen hätte. Gleichzeitig ist sei eines der größten Investitionshemmnisse für in- und ausländische Unternehmer.
Nur die Meinungsfreiheit gewonnen
Für die überwiegend jungen Leute, die 2011 auf die Straße gegangen sind, bleibt die Revolutionsrendite unterdessen aus. „Arbeit, Freiheit, Würde“ wurde damals auf jeder Demonstration skandiert. Bis auf die Meinungsfreiheit habe man nichts gewonnen, so die bittere Bilanz vieler junger Tunesier heute. Ihr Vertrauensvorschuss an den Staat ist längst aufgebraucht.
Knapp die Hälfte der tunesischen Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Sie fühlen ihre Anliegen durch die überwiegend älteren Politiker schlecht vertreten. Bis auf den 42-jährigen Premierminister Chahed sind die meisten Entscheidungsträger deutlich älter, Staatspräsident Beji Caid Essebsi ist gar 91 Jahre alt. Während nach dem Umbruch 2011 zunächst viele junge Leute in die Parteien eingetreten sind haben viele der Parteipolitik ebenso schnell wieder den Rücken gekehrt. Die verkrusteten, patriarchalischen Strukturen, die sie dort vorfanden, passten so gar nicht zur Aufbruchsstimmung der Revolution.
Stattdessen bildete sich eine dynamische Zivilgesellschaft heraus, die in vielen politischen Fragen ein Gegengewicht zu den traditionellen politischen Akteuren darstellt. Immer wieder positionieren sich diese entschieden für Transparenz im politischen Geschäft, für die Einhaltung der Menschenrechte oder für die Belange über Jahrzehnte marginalisierter Regionen im Landesinneren. Gleichzeitig würden ihre Forderungen immer wieder mit dem Verweis abgetan, in Tunesien sei die Situation doch deutlich besser als im Nachbarland Libyen, in Syrien, Ägypten oder dem Jemen. Ihnen werde abgesprochen, nach den gleichen Rechten und Entwicklungsmöglichkeiten zu streben, wie ein Bürger in Singapur, in Norwegen oder Frankreich, klagen sie. Statt sich an universellen Rechten zu orientieren sollte es ihnen genügen, sich positiv von den darbenden Nachbarstaaten abzugrenzen.
Demokratische Entwicklung gerät ins Stocken
Diese überwiegend junge Zivilgesellschaft, die mehr als die Medien in Tunesien die Rolle einer vierten Gewalt einnimmt, kritisiert lautstark, dass demokratische Fortschritte stagnieren. Zwar werden Anfang Mai 2018 die seit 2014 mehrfach verschobenen Kommunalwahlen stattfinden, allerdings wurden nach wie vor eine Reihe von Gesetzen zur Dezentralisierung nicht verabschiedet, die Zuständigkeiten und Budget der neu zu wählenden Institutionen regeln. Auch das Verfassungsgericht, das laut Verfassung bereits 2015 geschaffen werden sollte, wurde bis heute nicht eingesetzt. Der Grund sind vor allem immer wieder auftretende Blockadesituationen im heterogenen Parlament. So verfügt auch die sogenannte Regierung der nationalen Einheit nur auf dem Papier über eine komfortable Mehrheit. In der Praxis entwickeln sich zwischen den beiden großen Koalitionspartner, der nationalkonservativen Partei Nidaa Tounes und der muslimisch-konservativen Ennahdha, viele Abstimmungen in Grabenkämpfe und Auseinandersetzungen über die richtige Interpretation der Geschäftsordnung des Parlaments, so dass immer wieder Abstimmungen an Verfahrensfragen scheitern oder dadurch bewusst verzögert werden.
Nebem dem Verfassungsgericht traf es zuletzt die Wahrheitskommission IVD. Die Mandatsverlängerung der Kommission, die die Verbrechen der Diktatur aufarbeiten soll, wurde nach einer erregten Debatte verweigert. Allerdings herrscht juristisch keine Einigkeit darüber, ob das Parlament überhaupt über die Mandatsverlängerung entscheiden darf und wenn ja, ob das nötige Quorum erreicht wurde. Solche politische Auseinandersetzungen in dieser kritischen Phase des demokratischen Wandels naturgemäß weit größere Auswirkungen auf die Zukunft des Landes als in einem eingespielten System, in dem wichtige Garantiemechanismen und demokratische Instrumente bereits funktionieren. Emna Guellali, Leiterin des tunesischen Büros von der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW), spricht gar von einem „versuchten Staatsstreich gegen die Übergangsjustiz, den Rechtsstaat und den demokratischen Wandel generell“, der das Vertrauen ins Parlament nachhaltig beschädige.
Machtkampf an der Spitze
An der Regierungsspitze steht unterdessen mit Youssef Chahed bereits der siebte Premierminister in sieben Jahren. Mit gut anderthalb Jahren im Amt ist er dies zwar bereits länger als alle seiner Vorgänger seit 2011, doch auch sein Stuhl wackelt zunehmend. Angetreten im Herbst 2016 als Wunschkandidat von Staatspräsident Beji Caid Essebsi war der Handlungsspielraum des jungen Premierminister von Anfang an begrenzt. „Er hat weder sein Programm noch seine Regierungsmannschaft selbst ausgesucht, das macht ihn noch schwächer als seine Vorgänger“, so der Jurist und Kandidat für das zu wählende Verfassungsgericht, Slim Laghmani. Chahed habe vor allem zur Aufgabe, das sogenannte Abkommen von Karthago umzusetzen – ein Richtungspapier, dass 2016 unter der Ägide des Staatspräsidenten mit der Mehrheit der im Parlament vertretenen Partei sowie des Arbeitgeberverbandes und der Gewerkschaft erarbeitet wurde.
Nutznießer der Auseinandersetzungen im semiparlamentarischen tunesischen System ist vor allem Präsident Essebsi, der die Streitigkeiten im Parlament und die Schwäche der Regierung geschickt für sich zu nutzen weiß und seine Kompetenzen so weit wie möglich ausreizt. Auf der einen Seite positioniert er sich klar für umfassende Frauenrechte und hat eine Debatte zur Erbrechtsreform angestoßen – Themen, die auch im Ausland für viel positive Aufmerksamkeit gesorgt haben.
Andererseits nutzt er das Durcheinander im Parlament, um für eine Reform der Ernennung des Verfassungsgerichts und für eine Wahlrechtsreform zu werben, die klare Mehrheiten im Abgeordnetenhaus schaffen würde. Dies lässt in Teilen der politischen Szene Tunesiens die Alarmglocken schrillen. Wie schon unter der Diktatur würde Essebsi, der selbst unter dem ersten Präsidenten Habib Bourguiba Minister war und dessen Partei Nidaa Tounes einer Reihe Mitglieder des alten Regimes eine politische Heimat bietet, das Bild des gesellschaftlich fortschrittlichen Tunesiens nutzen, um hinter diese Fassade erneut autoritäre Strukturen zu schaffen.
„Während des Spiels aus parteipolitischen Überlegungen heraus die Spielregeln zu ändern ist mehr als problematisch“, so Emna Guellali von HRW. Dabei sollte gerade das neue Regierungssystem mit der Machtverteilung zwischen Premier und Präsident verhindern, dass erneut ein starker Mann alleine an der Spitze des Staates stehe.
Während sich die ausländische Unterstützung in den ersten Jahren des Umbruchs auf die Unterstützung demokratischer Strukturen und die Durchführung freier Wahlen konzentrierte, treten seit der Verabschiedung der Verfassung wirtschaftliche Fragen und Sicherheitsaspekte mehr und mehr in den Vordergrund. Seit die Regierung unter Führung der islamisch-konservativen Ennahdha-Regierung 2014 abgetreten ist, die Verfassung verabschiedet wurde und mit Nidaa Tounes eine säkulare Partei bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stärkste Kraft wurde von vielen Gebern die demokratische Zukunft des Landes als relativ gesichert angesehen. In wichtigen Schlüsselsektoren wie der Justiz oder im Sicherheitsbereich haben autoritäre Strukturen den Umbruch 2011 jedoch mehr oder weniger unbeschadet überlebt.
Ernüchterung der Bevölkerung
Neben der wirtschaftlichen Krise entwickelt sich also zunehmend eine politische Krise, die dazu führt, dass immer mehr Tunesier den Nutzen eines demokratischen Wandels an sich in Frage stellen und sich die relative Stabilität aus der Zeit der Diktatur zurückwünschen. Denn was bei der Bevölkerung hängenbleibt ist das Bild eines politischen Schmierentheaters, bei dem es den meisten Politikern nur darum geht, einen Posten zu sichern und nicht etwa für die Belange der Bevölkerung einzutreten.
Frust, der sich deutlich in den Umfragen niederschlägt: so gab im Februar nur ein Drittel der Wahlberechtigen an, bei den anstehenden Kommunalwahlen mit Sicherheit abstimmen zu gehen. Dabei könnten es gerade diese Wahlen sein, die dazu führen könnten, dass die positiven Auswirkungen des Umbruchs zum ersten Mal für Bevölkerung ganz konkret greifbar werden und sie einen direkten Einfluss auf die lokale Politik nehmen könnten. Drei Viertel der Kandidaten sind jünger als 45 Jahre, so dass zum ersten Mal eine Verjüngung der politischen Klasse realistisch erscheint. Andererseits treten in vielen der 350 Wahlbezirken nur die beiden großen Parteien Ennahdha und Nidaa Tounes an, so dass die Auswahl de facto begrenzt ist.
Wirtschaftliches und politisches Konfliktpotential
Gleichzeitig droht ein weiteres Eskalationspotential vor allem in den Grenzregionen des Landes. Unter dem Vorzeichen der Terrorabwehr geht die Regierung dort massiv gegen den Schmuggel vor. Mit amerikanischer und deutscher Unterstützung errichtet sie an der Grenze zu Libyen ein elektronisches Grenzüberwachungssystem. Am illegalen Grenzverkehr hängt jedoch das Überleben ganzer Regionen, in der es schon in der Vergangenheit immer wieder zu Auseinandersetzungen um Arbeitsplätze und zu gewalttätigen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kommt, welche sozioökonomische Bewegungen zunehmend unterdrücken. Um die Situation zu beruhigen verspricht die Regierung regelmäßig regional begrenzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sie jedoch kaum finanzieren kann. Bleiben die versprochenen Stellen aus kommt es dann erneut zu Konflikten, wie zuletzt in der Region von Tataouine. Woran es jedoch fehlt sind Strategien, wie die Schattenwirtschaft mittelfristig in reguläre Wirtschaftsstrukturen überführt werden kann.
Ohne wirtschaftliche Reformen, die sowohl der Bevölkerung der verarmten Regionen des Landes eine Perspektive bieten als auch die verfilzten Strukturen der Wirtschaftselite des Landes und die Korruption angehen, werden diese regelmäßigen Auseinandersetzung höchstens mit massiver Repression zu kanalisieren sein.
Gleichzeitig hat der Sturz Ben Alis gezeigt, dass die Lebensdauer eines autokratischen Regimes begrenzt ist, wenn es allein von wirtschaftlicher Entwicklung abhängt. Dies gilt umso mehr, als sich die Meinungsfreiheit in Tunesien aller Widrigkeiten zum Trotz zunehmend verankert. Eine positive wirtschaftliche Entwicklung ohne weitere demokratische Reformen wäre daher mittelfristig ebenso wenig nachhaltig.
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